Kritik: Sicko

USA 2007
Start: 11.10.07

Sicko

Regie: Michael Moore
Drehbuch: Michael Moore
Darsteller: Michael Moore, George W. Bush, Reggie Cervantes, John Graham, William Maher, Richard Nixon, Linda Peeno

5/10 Punkte

Kritik: Von Michael Moore kann vieles gelernt werden. Vom dummen Amerikaner noch einiges mehr. Die Kombination aus Moores stoischer Naivität und der heuchlerischen Ignoranz des amerikanischen Volks allerdings ergibt in „Sicko“, dem mooreschen Ausholschlag gegen das amerikanische Gesundheitssystem, recht zweifelhafte Tatsachenberichte. So ist Hillary Clinton kommend waghalsig als „sexy“ zu bezeichnen, Fidel Castro sollte demnächst das zerrüttete Krankensystem, nachdem er in Kuba neue Maßstäbe setzte, aufpolieren und jeder Europäer spätestens nach Moores Bergpredigt am besten täglich in das nächste Krankenhaus rennen, den Mediziner nach Hause bestellen, die staatliche Putzhilfe nach der Schwangerschaft beanspruchen. Warum schwer, wenn es auch einfach geht? Nach „Sicko“ sollte doch tatsächlich der Gedanke entstanden sein, in europäischen Landen wäre das Wunderparadies, der neue amerikanische Traum, ausgebrochen und würde in Form des weißen Leibkittels durch die Straßen fliegen, Menschen von Leid und Unheil rasend schnell befreien. Ja, wenn der Herrgott Michael Moore heißen würde, bliebe Teufel George W. Bush der Menschheit jegliche Lügenmärchen schuldig. Doch bestand in den aufbegehrenden Propaganda-Fetzen eines früheren Moore noch ein Unterschied zu seinem Lieblingsrivalen Bush, verdeutlicht „Sicko“ wie wenig Schwarz und Weiß getrennt leben können.

Geblieben ist Moore die ultimative Verkörperung des armen amerikanischen Bürgertums. Der kleine übergewichtige Ami mit Baseball-Mütze und Brille, zerzausten Haaren, immer den Schein eines dreckigen wetzenden Hundes an sich. Er definiert mittlerweile seine Persönlichkeit als eine Art Landesvater, ebenso aussehend und keinen Hein vor die eigene Unförmigkeit stellend. Das Vorbild einer ganzen Nation ist die absolute Klischeekarikatur eines Amerikaners. Natürlich, das passt, ist der geradewegs typische Amerikaner sofort von Gleichgesinnten begeistert, die die Meinung ihrer selbst akkurat und möglichst aggressiv darstellen können, weil ihre eigenen Münder vor Angst erzittern. Moores Konzept waren die Paukenschläge, die harten Tritte in den Magen und faschistischen Äußerungen, die fetzigen, mit Witz berieselten Bandagen. Intrigante Firmenschließungen („Roger & Me“), blutrünstige Schulmassaker („Bowling for Columbine“) und kriegsvernarrte Nationen („Fahrenheit 9/11“) später, ist er endlich im Krankenkomplex angekommen. Kein Zweifel, das amerikanische In- und Ausland verdient es, die obskuren Machenschaften der Pharmaunternehmen, verlogenen Ausreden von Versicherungen zu erfahren. Wenn ihnen all die leidgeplagten Verwindungen nur noch nicht bekannt gewesen wären.

Denn „Sicko“ ist vordergründig eine manipulative Gehirnwäsche, die das böse Etwas „Gesundheitssystem“ verteufelt und in schamlosen Familienschicksalen unschuldige Seelen mit in den Bann reißt. Deren Bestimmung ist unüberwindbar, der Tod steht ihnen bald nicht nur ins Gesicht, sondern in den Grabstein gemeißelt. Ein Mann, der dringend eine Knochenmarktransplantation benötigt, eine von einem Tumor befallene Frau, ein fiebriges Baby, ihnen wird dringende Hilfe verweigert. Der Schuldige ist klar: Herr Staat der US und A, der entgegen vieler ausländischer Freunde eine Sozialisierung des Krankensystems ablehnt. Eine verzerrte, ekelhaft rau aufgenommene Tonbandkonversation zwischen Richard Nixon und Edgar Kaiser gibt in „Sicko“ Aufschluss über den Ursprung der furchtbaren Marotte, für die Patienten heutzutage zwischen einem angenähten Mittel- oder Ringfinger wählen müssen und ihre geschundenen Beine selbst zusammenflicken. Während Moore in dem durchaus gelungenen ersten Teil auf die fortlaufend tränenreichen Einzelschicksale pocht, stürmt sein massiges Selbst spät, es könnte als das einzige Wagnis des Film gelten, den Unruhestifter mühevoll hinter der Kamera anzuketten, auf die Bühne. Bis der Kahn scheppert und nach Guantanamo Bay treibt.

Offenkundig führt „Sicko“ von der als frisch deklarierten, aber mittlerweile uralten und lange bekannten, Missgestalt der amerikanischen Gesundheitsversorgung jedoch im Faktum noch immer zur Hetzkampagne gegen Bush zurück. Mit seinen drei aufgeladenen Rettungshelfern des 11. September brettert Moore auf einer Flotte tatsächlich in Richtung des abgeschiedenen Gefangenenlagers Guantanamo, auf dem seine, von Atemwegserkrankungen und Stresssymptomen gezeichneten, Helden die hervorragende kostenlose Krankenversorgung genießen sollen, die von den Gefangenen in Anspruch genommen wird, während ihr glorreiches Land Amerika zwar Goldmedaillen verteilt, aber nicht zu einer hilfreichen Versorgung fähig ist. Zu einer Hilfeleistung kommt es, untermalt von Sirenen, wenn wundert’s, nicht. Also ziehen die Helden mit Moore im Schlepptau auf nach Kuba, in ein Gebiet von perfekter, kostenloser Behandlung. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute. Die handelsübliche Moore-Abfolge präsentiert Sarkasmus und Ironie in „Sicko“ bis zum Abwinken in einem Marionettentheater, das seine Grundgerüste nicht auf den Fluss eines Dokumentarfilms stellt, sondern seine Standfüße auf der Komödie behauptet. Moores überschäumender Drang Larifari auf ernstem Hintergrund publikumswirksam zu transportieren versagt jedoch, obwohl Potential und Wahrheitsgehalt an allen Fronten stehen.

Er achtet und respektiert den Sinn einer Dokumentation nicht, er umgeht alle Regelungen. Kontrovers für die einen, schlicht langweilig infolge der früheren Werke des Filmemachers, die wie in „Sicko“ eine Achse des Bösen, ein Unvermögen höherer Mächte, in den Mittelpunkt stellen und Augenzeugenberichtet herum wandern lassen. Seine gutwillige Ader verschwimmt in „Sicko“ inmitten grotesker Falschaussagen, so herrlich verfälscht und aufopferungsvoll geschildert, dass dem unwissenden Zuschauer eine Farce abseits Gut und Böse zuteil wird. Ähnlich wie Michael Moore selbst durch Kanada, England und Frankreich streift und den dumpfinnigen Amerikaner vorgibt (angenommen sein Schauspiel ist derart überzeugend), fühlt der Beobachter hoffnungslose Leere, gefangen in einem Pappmache aus amerikanischer Ignoranz, ganz nach den Worten des ehemaligen Abgeordneten des britischen Parlaments, Tony Benn, der in „Sicko“ zu Wort kommt: „Hoffnungslose Menschen wählen nicht“. Und sie entscheiden, sie kämpfen, bestimmen und beurteilen nicht. Sie sitzen da, drehen Däumchen, wählen Herrn Bush und blicken auf die Welt dort draußen, in der Hoffnung, es würde ein Funke herüber schwappen.

Doch diese Naivität kann sich zumindest kein Mensch außer Michael Moore leisten. Seine Fabel von der Geschichte: Bush ist weiterhin böse, die geldgierigen Versicherungs-, Pharmaunternehmen hinzu. Der Gute ist weiterhin Moore, der den Trott und die Sperenzien der über Leichen gehenden Jungs von ganz oben ahnungslos filmt, der Europa ein perfektes, kostenloses Krankensystem andichtet und seine Kamera um Designerwohnungen von Ärzten tanzen lässt. Michael Moore ist der schmutzige Klatschreporter, der mit skandalträchtigen, längst bekannten, Schlagzeilen Aufmerksamkeit zu erzwingen versucht. Er ist der ausufernde Spezialeffekt, der pompös und gutmütig einschlägt und wahrhaft ein kontroverses Chaos hinterlässt. Er ist der alte Haudegen, fern aller Realitäten und bar jeden Verständnisses von Information. Uferlose Komödie trifft den Klischeegang eines Amerikaners. „Sicko“ ist satirisch wertvoll, menschlich erniedrigend, informationsbedingt falsch.

4 Antworten to “Kritik: Sicko”


  1. 1 Rick August 29, 2007 um 6:32 pm

    Nachdem auch und gerade in Deutschland viele Menschen Herrn Moore für den GRÖDAZ (größten Dokumentarfilmer aller Zeiten) halten war es gewiß nicht einfach zu einem (Mach-)werk von Herrn Moore eine Filmkritik zu schreiben.

    Das Unterfangen scheint aber weitgehend gelungen, gratuliere. Herr Moore wurde auch ohne politische Schlagseite angemessen entzaubert, und der Film dabei nicht vergessen. Es darf bezweifelt werden dass viele das so gekonnt hätten 😉

    Mit freundlichen Grüßen aus Unterneuntupfing
    Rick, U9TA Initiator

  2. 2 Soraly August 29, 2007 um 6:44 pm

    Vielen Dank (obwohl mich das „weitgehend“ für einen Moment gestört hatte 😉 ).

    Dokumentarfilm und Filmkritik halte ich für ungemein schwierig unter einen Hut zu bringen. Moores Art allerdings erleichtert es ungemein, da keine trockene Grundlage durch seine Filme fließt, sondern unsinniger Witz, der eher Spielfilme auferstehen lässt, als informative Dokumentationen. Ob man tatsächlich einen Moore braucht, ist fraglich. Denn reines Aufzeigen reicht nicht, wenn der dumme Amerikaner von vornherein zum dummen Amerikaner degradiert wird. Warum also sollte er am Ende Veränderungen erzwingen?

    Wobei Moore, wie mir scheint, in Deutschland noch nicht in den Ausmaßen Fuß geschöpft hat, wie in Amerika.

    Liebe Grüße

  3. 3 Rick August 30, 2007 um 7:07 am

    Werte Soraly,
    in den USA ist er bereits weitgehend entzaubert und wird nur mehr von den Vertretern einer bestimmten Gesinnungsrichtung gottgleich verehrt. Es gibt x-dutzende Websites die sich mit Herrn Moore genauso intensiv beschäftigt haben wie Herr Moore mit Herrn Bush. So gesehen ist Herr Moore in den USA unter aufgeklärteren Menschen die weder den Dems noch den Reps nahestehen längst ein Non-Event.
    In deutschsprachigen Wirtschafts- & Politikforen wurde Herr Moore ebenfalls bereits zum Erbrechen durchgekaut, wie Du aber richtig gesagt hast – diese Diskussionen hatten nicht die Öffentlichkeit wie in den USA. Allerdings warum sollten sie das auch: Deutschland, Europa und alle anderen Länder dieser Erde haben im eigenen Land genug Sorgen um zuerst mal vor der eigenen Haustür zu kehren. Ein nicht-amerikanisches Volk mit Herrn Moore zu beschallen liegt stets als Ablenkungsmanöver im Interesse der jeweiligen Landespolitiker… 😉

    Ad ‚weitgehend‘ *schmunzel*
    Wenn das Feedback gestattet ist *zwinker*: die Filmkritiken sind wohl IMHO bereits besser als das was man von professionellen Kritikern die dafür sicherlich mehr Geld kassieren in sogenannten scheinwichtigen Tageszeitungen und Magazinen liest. Nach meinem Geschmack könnten sie noch etwas mehr Humor und Eleganz und etwas weniger Bitterstoffe vertragen. Perfekt werden die Kritiken wenn der Leser glaubt der Kritiker hätte bereits selbst mindestens 10 große erfolgreiche Filme gedreht und kann aus dieser Gelassenheit heraus kompetent urteilen weil er/sie das schon mal selber gemacht hat. Aber das ist natürlich nur mein ganz persönlicher Geschmack *zwinker*

    Lieber Gruß
    Rick

  4. 4 Soraly August 30, 2007 um 7:06 pm

    Doch auch wenn Moore eine großspurige Gegenformation seit jeher in Amerika um sich scharrt, so ist der Anteil nicht aufgeklärter Menschen, wenn man nach Moore gehen würde, also dem typisch dummen Sinnbild eines Amerikaners, immerhin elitär genug, um Herrn Moore stattliche Einspielergebnisse zu bescheren. Wenn der Blick weiter in die filmische Schiene rückt, kreist Moore jedoch bis heute auf dem Thron der Kritiker, wie eine durchschnittliche Wertung zu „Sicko“ auf „Rotten Tomatoes“ von 7,7/10 Punkten beweist. Unterhaltung heiligt alle Mittel.

    Die Kommentare sind nicht umsonst geöffnet 😉 . Nur herein spaziert. Viel mehr Lob kann man kaum (siehe, es sind die kleinen Wörter zwischendrin) erhalten, auch wenn ich bei jedem Anlauf weiter in den Film eindringen möchte, nach dem Motto: neuer Film, neue Kritik, neuer Versuch. Es gibt keinen direkten Perfektionismus, zumindest nicht für einen Kritikenschreiber. Der Teufel steckt im Detail, dass leider von Gefühlen geleitet wird. Nach „Sicko“ fühlte ich mich genervt, angebiedert und verarscht. Den Drang nach dieser Vorführung meiner Negativität freien Lauf zu lassen war stärker, als ein gelassener, belustigter Blick auf Moores Vorstellung. Ich bin sicherlich kein Mensch, der offenkundig Humor und Gelassenheit Eingang gewährt, weil auch nach zig Filmjahren immer die Hoffnung besteht, die cinematische Welt könne sich auch heute noch zum Guten ändern. Im Grunde fördert meine grundlegende Naivität also solche verwerflichen Meinungen zutage 😉 . Gelassenheit braucht Zeit, doch ob ein ignoranter Blick auf das Übel klüger ist, wird sich zeigen. Irgendwann stumpft man schlicht ab. Nach meinem ersten Film reden wir noch mal drüber 😉 .

    Das was ich erhalte sind übrigens eine Vielzahl an Pressevorführungen und kostenloser Futterspaß in jenen Stunden. Money, Money, zu schön 😉 .

    Liebe Grüße


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